Bischof Bohdan Dzyurakh: „Unser Ende wäre kein Ende der Gewalt“

15. Mai 2025

„Die russische Orthodoxie ist ein Instrument des russischen Imperialismus“, sagt Bischof Bohdan Dzyurakh im Interview mit Stephan Baier, Redakteur der Tagespost. Nachfolgend veröffentlichen wir das vollständige Gespräch mit freundlicher Genehmigung der Tagespost.

Bischof Bohdan Dzyurakh: „Unser Ende wäre kein Ende der Gewalt“

Foto: Imago/Reto Кlаr

Exzellenz, kann es zu einer Situation kommen, in der ein ungerechter Frieden besser ist als ein gerechter Verteidigungskrieg?

Ein „ungerechter Frieden“ ist ein Widerspruch in sich. Wenn der Frieden nicht gerecht ist, ist es überhaupt kein Frieden, sondern ein erzwungener, vorübergehender Waffenstillstand, der sich schnell als Präludium für eine noch größere Tragödie in breiterem Maßstab erweisen wird. Die Premierminister von England und Frankreich dachten am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, sie könnten ihren Ländern den Frieden erhalten auf Kosten eines der ersten Opfer von Hitlers Angriff. Die Folgen dieses Kompromisses mit dem Aggressor sind bekannt. Die Geschichte zeigt, dass Zugeständnisse an einen Aggressor dessen aggressive Handlungen nie stoppen, sondern seinen Appetit anheizen. Jene, die ein unschuldiges Opfer zur Kapitulation zwingen, stellen sich selbst auf die Seite des Aggressors und werden so zu Komplizen seiner Verbrechen.

Wie kann die Ukraine überleben, wenn Washington sie verraten hat?

Auch wenn Menschen uns verraten, wird Gott uns doch nie verraten und verlassen. Viele Länder und Millionen Menschen guten Willens sind weiter auf unserer Seite, ja, wir beobachten eine dynamische Entwicklung in Europa. Hier will man die Ukraine unterstützen, denn ein Sieg des Aggressors würde nicht Frieden bringen, sondern das Böse über die ukrainischen Grenzen hinaus verbreiten. Derzeit zahlen wir Ukrainer den größten Preis dafür, den Aggressor aufzuhalten. Wir wollen nicht, dass auch andere einen ähnlichen Preis zahlen. Denn unser Ende wäre kein Ende der Gewalt! Es würde die russische Führung ermutigen, ihre aggressiven Handlungen auszuweiten: in Europa und in anderen Regionen, wo Russland seit Jahren Gewalt ausübt und Vernichtung verbreitet. Es liegt eine große Verantwortung für die Zukunft Europas auf den Schultern der Politiker, die nicht nur an die nächsten Wahlen, sondern an die Zukunft ihrer Völker denken müssen. Letztlich werden Gott und die Geschichte alles wieder in Ordnung bringen und das gestörte Gleichgewicht der Welt wiederherstellen, aber ich wünsche uns allen nicht, dass die Kosten dafür noch höher ausfallen.

Papst Franziskus sprach ab 2016 immer wieder vom „Weltkrieg in Stücken“.

In diesem Punkt kann man dem heimgegangenen Papst nur zustimmen. Als Oberhaupt der weltweiten Kirche hatte er einen globalen Blick auf die Welt und war besorgt über jede vergossene Träne, jedes Leid, das Menschen erfahren. Aber es genügt nicht, zu versuchen, blutige Kriege irgendwie zu beenden. Es ist unerlässlich, nach ihren Ursachen zu fragen. Wenn wir auf den russischen Krieg gegen die Ukraine blicken, so ist eine der Hauptursachen, dass die Verbrechen des Kommunismus nie aufgearbeitet wurden. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat man Hitler verurteilt, nicht aber das stalinistische Regime in der Sowjetunion, das an der Auslösung des Weltkriegs beteiligt war. Das Regime Putins wäre nicht möglich geworden, wenn man das blutige Erbe des Kommunismus aufgearbeitet hätte. Nun versuchen Putin und seine Komplizen, diese „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“, wie sie den Zusammenbruch der Sowjetunion bezeichnen, zu korrigieren und das „Reich des Bösen“ mit seinen völkermörderischen Methoden wiederherzustellen.

Ist Wladimir Putin bloß ein Sowjetnostalgiker oder spielt da eine tiefere Dimension mit: die Idee, Russland habe eine zivilisatorische Mission, die seinen Imperialismus rechtfertigt?

Absolut! Das zaristische, das bolschewistische und das putinistische Russland versteht sich stets als Macht imperialer Natur. Moskau führt in der Ukraine auch einen Kolonialkrieg. Russland hat das eigene Volk gegen die Ukrainer aufgehetzt und bestreitet unsere Identität und unser Existenzrecht. Dabei bedient es sich „eines mörderischen Kriegswerkzeugs zu umfassender Anwendung: der Propaganda“, um es mit den Worten von Papst Johannes Paul II. auszudrücken. Propaganda ist gefährlicher als konventionelle Waffen, denn sie tötet das Gewissen der Menschen und bereitet so blinde Vollstrecker krimineller Befehle vor, Mörder, Vergewaltiger, Räuber: all das sehen wir in der russischen Aggression gegen die Ukraine. Russland mag versuchen, seine Gräuel mit imperialistischen Ideen zu rechtfertigen, doch das Böse bleibt das Böse.

Die Rolle der russisch-orthodoxen Kirche in dieser Tragödie ist nach wie vor höchst umstritten.

Die russisch-orthodoxe Kirche (ROK) ist seit Jahrzehnten ein Instrument des russischen Imperialismus. Ab 1943 wurde sie von Stalin zugelassen, und ihre damalige Führung meinte, sich und die Kirche auf diese Weise retten zu können. Bis heute hat die Führung der ROK die Kollaboration mit dem stalinistischen Regime weder als Fehler anerkannt noch bereut. Ein tragisches Bild bot der musikalische Auftritt eines orthodoxen Chores bei den Feierlichkeiten zum 100-jährigen Bestehen der Tscheka (später KGB und FSB) 2018, dessen Gründer nach der Oktoberrevolution 1917 Hunderttausende orthodoxe Geistliche und Gläubige ermordeten. Allein das illustriert, wie tief die Führung dieser Kirche gesunken ist und wie weit sie sich vom Geist des Evangeliums entfernt hat. Die ROK bedarf einer Bekehrung, einer tiefen Katharsis. Nur ein kleiner Teil der russischen Gesellschaft und ein noch kleinerer Teil der russischen Orthodoxie wagte es, sich zur Wahrheit zu bekennen und diesen Krieg zu verurteilen. So bleibt der Aufruf der Jungfrau Maria von Fatima zu intensivem Gebet und Buße für die Bekehrung Russlands vor mehr als hundert Jahren immer noch aktuell.

Was droht im Fall einer Niederlage der Ukraine?

Am ukrainischen Volk würde ein offener Genozid vollendet werden, vor den Augen der ganzen Welt und unter Mittäterschaft eines Teils dieser Welt. Die russischen Truppen würden an der Schwelle der EU stehen und mit großer Wahrscheinlichkeit Länder der EU angreifen. Das russische Regime, überzeugt von der Schwäche des Westens, würde seine subversiven Aktivitäten in den westlichen Ländern fortsetzen und verstärken. Diktatoren aller Art würden ihre Köpfe noch höher erheben und beginnen, ihre blutrünstigen Ziele in verschiedenen Teilen der Welt zu verfolgen. Andererseits würden kleine Nationen versuchen, um jeden Preis in den Besitz von Atomwaffen zu gelangen, da sie darin die einzige Möglichkeit sehen würden, potenzielle Angreifer abzuschrecken. Alle haben gesehen, wie die freie Welt die Ukraine, die 1994 das weltweit drittgrößte Atomwaffenarsenal um des Weltfriedens willen aufgegeben hat, im Stich gelassen hat. Es geht dem Aggressor darum, uns auszulöschen. Wenn man die Ukraine nach unzähligen russischen Kriegsverbrechen aufgrund eines unfairen Deals Putin schenken würde, wäre das auch ein Verrat an allen, die auf Gerechtigkeit und den Triumph der Wahrheit hoffen. Ich glaube nicht, dass die freie Welt dieses Szenario akzeptiert.

Wie traumatisiert ist die Bevölkerung in der Ukraine durch den russischen Raketen- und Drohnenterror?

Unsere Menschen sind tief traumatisiert, auch die Kinder. Deshalb versuchen wir, unsere Priester so gut wie möglich auf die Herausforderungen vorzubereiten. Vor Kurzem haben wir einen Fortbildungskurs zum Thema „Heilung von Kriegswunden“ organisiert: vier Tage mit sieben Spezialisten. Wir müssen versuchen, sowohl den Menschen mit körperlichen Verletzungen – mehr als 50.000 leben in der Ukraine mit Amputationen von Händen oder Beinen – als auch jenen mit psychischen Traumatisierungen zu helfen. Gleichzeitig müssen wir darauf achten, dass unsere Priester nicht selbst erschöpft und überfordert werden, denn dann können sie den Menschen nicht mehr helfen.

Russland attackiert systematisch die Zivilbevölkerung weit abseits der Front. Ist da eine Strategie der Zermürbung?

Daran haben wir keinen Zweifel. Täglich erreichen uns aus der Ukraine Nachrichten über immer heftigere Raketen- und Drohnenangriffe auf ukrainische Städte und Dörfer, wobei sich die russischen Attacken vor allem gegen zivile Infrastruktur und Zivilisten richten. Das russische Regime verfolgt eine Strategie der verbrannten Erde und versucht, die ukrainische Gesellschaft in Angst und Verzweiflung zu stürzen, um die Menschen und den Staat zu zwingen, den Kampf um die Freiheit aufzugeben und zu kapitulieren. Die massiven Angriffe an der Front verfolgen ein ähnliches Ziel. Bereits jetzt haben 70 Prozent der Ukrainer mindestens einen Verwandten, der an der Front war oder ist. Damit leben die meisten ukrainischen Familien in der Angst, Angehörige zu verlieren. Mehr als 60.000 Menschen gelten als vermisst; ihre Familien leben in ständiger Qual, weil sie nicht wissen, ob ihre Lieben gefallen sind oder gefangen genommen wurden. Wir versuchen ihnen durch Trauerseelsorge, Gebete und psychologische Begleitung zu helfen. Doch nur die Liebe Gottes kann all diese Wunden heilen.

Die Ukraine verabschiedete im Vorjahr ein Gesetz, das ermöglicht, religiöse Organisationen zu verbieten, die von einem Aggressorstaat aus gelenkt werden. Gemeint ist die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche (UOK), die vom Moskauer Patriarchat abhängt. Schränkt das die Religionsfreiheit ein?

Obwohl das Gesetz mit keinem Wort diese Kirche erwähnt, haben es viele Beobachter so gedeutet. Manche meinen, das sei ein politisch-populistischer Schritt gewesen, um Erwartungen in der Bevölkerung entgegenzukommen. Wahrscheinlich gab es gute Gründe, dass sich der ukrainische Staat über die fragwürdige Rolle einiger Vertreter des religiösen Milieus Sorgen macht. Es scheint dabei weniger um die Beschränkung der religiösen Freiheit zu gehen, als um die Sicherheit der Menschen in der Ukraine und um den Schutz der Kirchen und religiösen Organisationen, damit sie nicht für politische Zwecke des feindlichen Landes instrumentalisiert werden. Mir ist aber nicht bekannt, inwieweit das Gesetz die besagten Ziele erreicht hat.

In Russland ist die russische Orthodoxie faktisch Staatskirche; in der Ukraine wurde in den vergangenen Jahrzehnten jeweils die eine oder die andere Orthodoxie politisch gefördert. Droht jetzt auch in der Ukraine eine Staatskirche etabliert zu werden, die Orthodoxe Kirche der Ukraine (OKU)?

Es gab immer wieder solche Versuche, eine Staatskirche zu etablieren: seitens des Staates und seitens der orthodoxen Kirchen. Auch jetzt wird die Option, die Orthodoxe Kirche der Ukraine zur Staatskirche zu machen, nicht ausgeschlossen. Es gibt eine Tendenz in diese Richtung. Zurzeit sehe ich jedoch keine große Gefahr der Entstehung einer Staatskirche, weil in der Ukraine eine echte Zivilgesellschaft aufgebaut wurde und weil wir ein friedliches Zusammenwirken der Kirchen und Religionsgemeinschaften in der Ukraine erleben. Seit 25 Jahren arbeiten sie im „Allukrainischen Rat“ zusammen. In diesem Gremium verfasst man gemeinsame Erklärungen, sogar in delikaten und für das Land äußerst wichtigen Fragen. Als Katholiken denken wir, die ukrainische Orthodoxie sollte die Fehler der russischen Orthodoxie nicht wiederholen. Für einen konstruktiven Beitrag zum Wohl der gesamten ukrainischen Gesellschaft brauchen die Kirchen eine gesunde Autonomie. Die Kirche ruht nicht auf staatlichen Ideen oder Institutionen, sondern auf den Verheißungen Christi und auf der Kraft des Heiligen Geistes.

09. Mai 2025, Quelle: Tagespost

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